Mark Schweizer
Tübingen (Jus Privatum 189) 2015
Publication year: 2015

Die gerichtliche Tatsachenfeststellung ist in ihrer praktischen Bedeutung kaum zu überschätzen, ihre gesetzliche Regelung jedoch ist rudimentär. In der Überzeugung, dass traditionelle Methoden der juristischen Hermeneutik nicht geeignet sind, dem Begriff der »freien Beweiswürdigung« Kontur zu verleihen, nähert sich Mark Schweizer dem Begriff mit Methoden der Wahrscheinlichkeitstheorie. Er zeigt, wie eine vollständig rationale Beweiswürdigungstheorie aussehen könnte und wie diese mit der tatsächlichen, intuitiven, richterlichen Überzeugungsbildung kontrastiert. Daraus resultieren Erkenntnisse, wie der Vorgang der Beweiswürdigung verbessert werden kann. Welchen Grad die richterliche Überzeugung zur Wahrheit strittiger Tatsachenbehauptungen erreichen muss, ehe in einem Zivilverfahren für die beweisbelastete Partei entschieden werden darf – gemeinhin als »Beweismaß« bezeichnet – untersucht der Autor in einem zweiten Teil aus der Perspektive der Entscheidungstheorie und kommt zu dem Schluss, dass ein striktes Festhalten am Regelbeweismaß der »persönlichen Gewissheit« nicht zu rechtfertigen ist.

Rezensionen

Thesen

Da absolute Gewissheit, dass die rechtlich relevanten Tatsachenbehauptungen wahr sind, für ein Urteil nicht verlangt werden kann, muss man entweder auf die Voraussetzung der Wahrheit oder der absoluten Gewissheit verzichten. Versuche, auf die Wahrheit als Bezugspunkt richterlicher Überzeugungzu verzichten, dürfen als gescheitert bezeichnet werden. Die objektive Wahrscheinlichkeit kann kein Bezugspunkt sein, weil es eine objektive, für alle Beobachter gleiche, Wahrscheinlichkeit eines Einzelfalls nicht geben kann. Die Wahrheit durch eine formelle Wahrheit zu ersetzen, überzeugt nicht, wurde die freie Beweiswürdigung doch eingeführt, um zu ermöglichen, dass die dem Urteil zugrunde liegende Sachverhaltsrekonstruktion mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Die freie Beweiswürdigung ist das Mittel zur Feststellung der (materiellen) Wahrheit. Ziel der Beweiswürdigung ist daher die Wahrheit im Sinne der Korrespondenztheorie und die freie, aber an Denkgesetze und Erfahrungssätze gebundene Überzeugungsbildung ist das Mittel, das der Gesetzgeber statt formaler Beweisregeln gewählt hat, um dieses Ziel näherungsweise zu erreichen. Das Beweismaß bestimmt den Grad der persönlichen Überzeugung, der vorliegen muss, ehe ein Richter eine bestrittene Sachverhaltsrekonstruktion als wahr erachten darf. Abzulehnen ist die Auffassung, das Beweismaß bestimme den Bezugspunkt der richterlichen Überzeugung. Bezugspunkt kann nur die (schlichte) Wahrheit sein.

Die freie Beweiswürdigung („conviction intime“) wurde in Frankreich im Zuge der französischen Revolution im Zusammenhang mit der Einführung der Geschworenengerichteeingeführt. In Deutschland stand man der freien Beweiswürdigung anfänglich skeptisch gegenüber. Erst ein gewandeltes Verständnis der freien Beweiswürdigung als „conviction raisonée“ führte zu ihrer Akzeptanz auch dort, wo keine Geschworenen über die Tatfrage urteilten. Nach dem deutschen Verständnis der freien Beweiswürdigung bedeutet frei zwar frei von gesetzlichen Regeln, aber nicht irrational. Ausgedrückt wird die Bindung der richterlichen Überzeugung an die Rationalität heute durch die Formel, dass die Beweiswürdigung nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen darf.

Was den Inhalt der Denkgesetze anbelangt, so darf als unstrittig gelten, dass die Gesetze der klassischen (aristotelischen) Logik nicht verletzt werden dürfen. Die Überzeugungsbildung gehorcht aber normativ weiteren Gesetzen, nämlich den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie (Normierung, Sicherheit und Additivität). Das heißt, wer sicher ist, dass eine Tatsachenbehauptung wahr ist, ist zu 100% überzeugt (Sicherheit); man kann keine Überzeugung von unter null oder über 100% haben (Normierung), und wer zu einem Grad von q überzeugt ist, dass eine von zwei sich gegenseitig ausschließenden Aussagen wahr ist, und zu einem Grad r, dass die andere der beiden Aussagen wahr ist, muss einen Überzeugungsgrad von q + r haben,  dass eine der beiden Aussagen wahr ist (Additivität). Wer diese Grundregeln nicht einhält, setzt sich der Gefahr aus, Kombinationen von Wetten zu von ihm als fair erachteten Wett-Quoten zu akzeptieren, die ihm einen sicheren Verlust einbringen, unabhängig davon, wie der Zustand der Welt ist. Der Verlust von Geld an einen imaginären Buchhalter ist dabei nicht der Hauptgrund, dies als irrational zu bezeichnen. Entscheidend ist, dass ein Subjekt, dessen Teilüberzeugungen die Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie verletzen, Wetten als fair rechtfertigen würde, die ihm einen sicheren Verlust einbringen.

Die Einhaltung der Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie durch die subjektiven Überzeugungen des Subjekts bedeutet, dass das Subjekt seine Überzeugungen im Lichte neuer Information gemäß Bayes’ Regel (respektive Jeffreys Regel bei probabilistischer Information) anpassen muss. Bayes’ Regel ist ein normatives Modell der Überzeugungsbildung, das unmittelbar aus dem Postulat folgt, dass persönliche Überzeugungen die Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie nicht verletzen dürfen. Die rationale a posteriori Überzeugung ergibt sich sowohl aus der anfänglichen Überzeugung für die Wahrheit einer Tatsachenbehauptung wie aus dem Likelihood-Quotienten der Beweismittel. Likelihood-Quotient ist das Verhältnis der bedingten Wahrscheinlichkeit des Beweismittels, gegeben, dass die Tatsachenbehauptung wahr ist, geteilt durch die Wahrscheinlichkeit des Beweismittels, gegeben, dass die Tatsachenbehauptung falsch ist, und ist ein Maß für die Beweiskraft. Um einen bestimmten rationalen Überzeugungsgrad (a-posteriori-Wahrscheinlichkeit) zu erreichen, muss die Beweiskraft eines Beweismittels umso höher sein, je weniger wahrscheinlich die Tatsachenbehauptung anfänglich ist. Die deutsche Praxis zum Anscheinsbeweis reflektiert dies. Die schwedische Beweiswertmethode, die ein anderes Verständnis von Beweiswert hat, ist kein Modell der Überzeugungsbildung, sondern der Beweisbarkeit.

Die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie macht in ihrer Reinform keine Vorschriften dazu, wie das Subjekt zu seinen Teilüberzeugungen gelangt, sie besagt nur, dass das Subjekt gewisse Überzeugungen nicht gleichzeitig halten darf, ohne inkohärent zu sein. Der Wert der Kohärenz im Sinne der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie wird eigentlich erst in komplexen Fällen offenbar. Dort erlaubt sie zu prüfen, ob die Teilüberzeugungen des Subjekts dazu führen, dass es, bei Vermeidung von Inkohärenz, gewisse andere Teilüberzeugungen halten muss, die erkennbar falsch sind. Die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie erlaubt so eine Kontrolle, ob das Überzeugungssystem in sich stimmig ist.

In komplexen Fällen ist diese Kontrolle der inneren Kohärenz ohne Hilfsmittel nicht möglich. Ein solches Hilfsmittel sind Bayes’ Netze, welche die Modellierung der direkten Abhängigkeiten zwischen Variablen durch eine grafische Notation erlauben und die Kohärenz der durch das Netz modellierten Teilüberzeugungen im Sinne der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie erzwingen. Ihre einfache Semantik ermöglicht es auch dem mathematischen Laien, sein Wissen über die Welt in einer kohärenten Weise zu erfassen. Durch die Implementierung in Computerprogrammen mit grafischer Benutzeroberfläche können sie einfach geändert und dem wachsenden Wissen angepasst werden. Bayes’ Netze erlauben zu testen, wie sich verschiedene Teilüberzeugungen auf die subjektive Wahrscheinlichkeit der interessierenden Hypothese(n) auswirken. Ohne dass dem Entscheider die Teilüberzeugungen von außen vorgegeben würden, erlauben sie, offensichtlich unsinnige Annahmen zu erkennen.

Die Konstruktion eines Bayes’ Netzes zwingt zum Nachdenken über die Quellen von Unsicherheit, die in einer Menge von Beweismitteln stecken und vermögen diese aufzudecken. Sie zwingen dazu, implizite Annahmen explizit zu machen. Dadurch fördern sie die Transparenz der Beweiswürdigung und ermöglichen erst den inter-subjektiven Dialog. Wer sagt, dass er die für die Parametrisierung eines Bayes’ Netzes notwendigen (bedingten) Wahrscheinlichkeiten unmöglich beziffern kann, sagt im Grunde genommen, dass er seine Überzeugungsbildung nicht offen legen kann. Dazu ist er als Richter in der Schweiz und in Deutschland aber gehalten.

Der atomistischen, zergliedernden Betrachtungsweise, die durch ein Bayes’ Netz erst ermöglicht wird, kann die holistische Gesamtschau, die „intuitive“ Überzeugungsbildung, gegenübergestellt werden. Assoziative Intuition beruht auf implizitem Wissen und ist lernbar. Gute assoziative Intuitionen setzen eine Lernumgebung voraus, die aussagekräftige, zutreffende, und möglichst zeitnahe Rückmeldungen über die Konsequenzen einer Entscheidung zur Verfügung stellt. Richter erhalten bei ihrer Entscheidung über die Wahrheit von Tatsachenbehauptungen keine relevanten Rückmeldungen in dem Sinne, dass sie erfahren, ob ihre Sachverhaltsrekonstruktion mit der Wirklichkeit übereinstimmte. Die Annahme, dass Richter sich auf die gleichen Intuitionen verlassen wie andere Menschen, wenn sie falsche von wahren Behauptungen zu scheiden versuchen, ist daher zulässig.

Theorien der konstruktiven Intuition gehen davon aus, dass der Mensch automatisch, unbewusst und sehr schnell versucht, eine kohärente mentale Repräsentation der Welt zu schaffen. In einem iterativen Prozess der Kohärenzbildungwird aus einer ambivalenten, widersprüchlichen Menge von Beweismitteln ein kohärentes Gesamtbild geschaffen, indem Indizien, welche die nachfolgende Entscheidung stützen, auf-, und widersprüchliche Indizien abgewertet werden (so genannte Kohärenzverschiebungen). Das Resultat ist, dass ein unklarer Sachverhalt zunehmend klarer erscheint und der Urteilende am Schluss des Überzeugungsbildungsvorgangs überzeugt ist, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Eine atomistische Beweiswürdigung in dem Sinne, dass die Anfangswahrscheinlichkeit für die Hypothese und die Beweiskraft der einzelnen Beweismittel gemäß ihren Likelihood-Quotienten beurteilt werden und die Gesamtüberzeugung durch Integration der Teilüberzeugungen nach Bayes’ Regel erfolgt, führt dazu, dass diese Kohärenzverschiebungen weitgehend vermieden werden. Die dem Sachverhalt innewohnende Ambivalenz bleibt erhalten, was sich in einem moderaten Überzeugungsgrad für die Wahrheit der Hypothese niederschlägt. Das falsche Gefühl der Sicherheit, dass durch die Prozesse der konstruktiven Intuition entstehen kann, wird dadurch vermieden.

Normative Kohärenztheorien der Tatsachenfeststellung vor Gericht sind unter anderem aus diesem Grund abzulehnen.  Normative Kohärenztheorien postulieren, dass der Schluss auf die Wahrheit der Sachverhaltsrekonstruktion gerechtfertigt ist, wenn die (Re-)Konstruktion des Sachverhalts und vorläufig als wahr akzeptierte Aussagen, die sich auf unmittelbare Beobachtung oder Erfahrungswissen stützen können, kohärent sind. Der gleiche Sachverhalt kann sehr unterschiedlich, aber immer gleich kohärent, wahrgenommen werden. Während eine im Sinne der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie kohärente Überzeugungsbildung das vorhandene epistemische Defizit deutlich macht, verbergen es kognitive Kohärenztheorien.

Die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie liefert die Denkgesetze der rationalen Überzeugungsbildung. Sie sagt aber in ihrer Reinform nichts zu den Inhalten der Überzeugungen. Die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie wird daher meist durch das „Frequency Principle“ oder „Principle of Direct Probability“ ergänzt: Wo ein bestimmtes Merkmal in einer homogenen Referenzklasse mit einer bestimmten relativen Häufigkeit vorkommt, muss die persönliche Überzeugung, dass ein zufällig ausgewähltes Mitglied dieser Referenzklasse das Merkmal aufweist, seiner relativen Häufigkeit entsprechen. Die völlige Freiheit, beliebige Überzeugungen zu halten, wird dadurch eingeschränkt.

Die Gültigkeit dieses Schlusses, des „Bayes’schen statistischen Syllogismus“, hängt aber von der (starken) Annahme ab, dass die Referenzklasse in Bezug auf das interessierende Merkmal homogen ist. Tatsächlich trifft dies oft nicht zu. Gleichzeitig weiß man oft nichts über die tatsächliche Verteilung des Merkmals und geht für die Zwecke des Schließens von der Homogenität der Referenzklasse aus. Dies ist gerechtfertigt, weil die Alternative, der vollständige Verzicht auf den Bezug auf die Referenzklasse, einem Verzicht auf die beste verfügbare Information gleichkommt.

Mit der Ergänzung durch das „Frequency Principle“ handelt sich die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie auch das Referenzklassenproblem des frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs ein. Grundsätzlich lässt sich jeder Einzelfall in eine unendliche Vielzahl von Referenzklassen einteilen. Praktisch stellt sich das Problem, dass zur relativen Häufigkeit des interessierenden Merkmals in vielen Referenzklassen keine Informationen verfügbar sind. Eine theoretisch einzig richtige Lösung des Problems gibt es nicht. Deswegen formale Modelle der Beweiswürdigung abzulehnen, überzeugt dennoch nicht. Das Referenzklassenproblem, eines der schwierigsten Probleme induktiven Schließens, wird durch formale Modelle nur offen gelegt. Es plagt jeden Schluss von einer Generalisierung auf den Einzelfall, und ohne solche Schlüsse ist Beweiswürdigung nicht denkbar.

Was das „Frequency Principle“ für den Statistiker ist, ist die Bindung an die Erfahrungssätze für den Richter. Die Erfahrungssätze übernehmen die Aufgabe der relativen Häufigkeit, die richterlichen Überzeugungen an eine empirische Basis zu binden. Weil in einem Gerichtsverfahren zahlreiche empirische Annahmen getroffen werden müssen, zu denen keine statistischen Daten vorliegen, können Quellen von Erfahrungssätzen auch die eigene Erfahrung des Richters, die Erfahrung Dritter oder Alltagswissen

Erfahrungssätze, die nur auf Alltagswissen beruhen, können öfter falsch sein. Wo ihnen eine gesteigerte Beweiskraft zugemessen wird, die genügt, eine Tatsachenbehauptung ohne weitere konkrete Anhaltspunkte für wahr zu erachten, geht von ihnen eine besondere Gefahr für die Korrespondenz der Sachverhaltsrekonstruktion mit der Wirklichkeit aus. Es rechtfertigt sich daher, sie im Rechtsmittelverfahren einer vertieften Prüfung zu unterziehen. Dieser Ansatz vermag die Rechtsprechung zur Revisibilität der Erfahrungssätze, wie sie tatsächlich gelebt wird, sowohl zu erklären als auch zu rechtfertigen.

In der Schweiz gewinnt unter der schweizerischen Zivilprozessordnung die Abgrenzung der vom Bundesgericht frei überprüfbaren Erfahrungssätze von den nicht überprüfbaren Erfahrungssätzen eine ganz neue praktische Bedeutung. Die Beweiswürdigung ist jetzt erstmals bundesrechtlich geregelt. Das Bundesgericht ist wie das Revisionsgericht in Deutschland grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz gebunden, aber die Anwendung von Bundesrecht wird vom Bundesgericht frei geprüft. Eine Beweiswürdigung, welche die von Art. 157 ZPO-CH gesteckten Grenzen überschreitet, ist eine Verletzung von Bundesrecht. Die Beweiswürdigung ist nicht erst dann rechtswidrig, wenn sie willkürlich ist, wie das Bundesgericht vertreten hat, als die Beweiswürdigung zur Domäne des kantonalen Rechts gehörte, dessen Verletzung es nicht überprüfen konnte, solange nicht auch eine Verletzung  verfassungsmäßiger Rechte des Bundes vorlag, zu denen das Willkürverbot gehört.

Die formale Entscheidungstheorie zeigt, dass bei einer Entscheidung unter Unsicherheit neben der Überzeugung, dass ein Zustand der Welt vorliegt, auch die Folgen der Entscheidung zu berücksichtigen sind, die vom Zustand der Welt abhängen. Es ist rational, diejenige Entscheidung zu treffen, welche die erwarteten Kosten minimiert. Das Verhältnis der Fehlerkosten der verschiedenen möglichen Ergebnisse einer Entscheidung bestimmt die Entscheidungsgrenze. Die Entscheidungstheorie bietet eine elegante Erklärung für das Beweismaß der „preponderance of the evidence“, das in den Ländern des Common Law Rechtskreises in Zivilsachen gilt. Weil es nach überwiegender Meinung keinen Grund gibt, die Kosten, eine zivilrechtliche Klage zu Unrecht abzuweisen, geringer zu gewichten als die Kosten, die Klage zu Unrecht gutzuheißen, minimiert eine Entscheidungsgrenze von gerade über 50% die erwarteten Fehlerkosten.

Anders als in den Ländern des Common Law-Rechtskreises gilt sowohl in der Schweiz wie in Deutschland in Zivilsachen grundsätzlich das Regelbeweismaß der „vollen Überzeugung“, das erreicht ist, wenn der Richter mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad der Gewissheit vom Vorliegen der anspruchsbegründenden Tatsachen überzeugt ist. Soweit sich dieser Überzeugungsgrad in einem numerischen Wert ausdrücken lässt, muss er 90% übersteigen.

Die Kosten eines Fehlurteils können und müssen durch die Ziele des Verfahrens bestimmt werden. Sieht man die Ziele des Zivilprozesses in der Durchsetzung des materiellen Rechts und der Beendigung von Konflikten zwischen privaten Parteien, folgt unmittelbar, dass diese Ziele am besten erreicht werden, wenn das Beweismaß die überwiegende Überzeugung ist, dass die anspruchsbegründenden Tatsachenbehauptungen wahr sind. Das Ziel der materiellen Rechtsverwirklichung wird durch ein Urteil, das einen Anspruch nicht schützt, der tatsächlich gegeben ist, ebenso verfehlt wie durch ein Urteil, das einen Anspruch durchsetzt, der tatsächlich nicht gegeben ist. Das Konfliktbeendigungsziel anderseits wird durch korrekte wie falsche Urteile im gleichen Umfang verwirklicht. Die Fehlerkosten sind daher identisch, und die Entscheidungsgrenze muss bei einer subjektiven Wahrscheinlichkeit von gerade über 50% liegen, oder eben bei einer überwiegenden Überzeugung. Auf die persönliche Situation der Parteien kommt es nicht an.

Diese Auffassung macht weder die Beweislastregeln überflüssig – Fälle, die nach richterlicher Überzeugung beim besten Willen nicht zu entscheiden sind, wird es auch unter der Lehre der überwiegenden Überzeugung geben – noch ist sie mit dem Wortlaut von § 286 ZPO-DE respektive Art. 157 ZPO-CH unvereinbar. Das Beharren der herrschenden Lehre und Rechtsprechung auf einem höheren Regelbeweismaß lässt sich psychologisch durch Verlustaversion und Status quo Bias erklären. Die Intuition ist aber keine ausreichende normative Basis für ein Regelbeweismaß der vollen Überzeugung.

Der Unterschied zwischen der Lehre von der überwiegenden Überzeugung und der herrschenden Lehre von der vollen Überzeugung ist weniger groß als gemeinhin angenommen, wenn man sich bewusst macht, worauf sich die Überzeugung bezieht. Für die entscheidungstheoretische Rechtfertigung des Beweismaßes ist einzig maßgeblich, ob die Gesamtheit der anspruchsbegründenden Tatsachen eher wahr als falsch ist. Die herrschende Lehre stellt auf die einzelnen Tatbestandsmerkmale ab. Wo mehrere unabhängige Tatbestandsmerkmale gegeben sein müssen, ist ersteres viel schwieriger zu erreichen. Auch nach der Lehre der überwiegenden Überzeugung ist es bei mehreren unabhängigen Tatbestandsmerkmalen absolut notwendig, dass einzelne Merkmale mit erheblich mehr als 50%-iger subjektiver Wahrscheinlichkeit vorliegen, ansonsten die Gesamtwahrscheinlichkeit schnell unter 50% sinkt.

Wenn bereits das Regelbeweismaß bei der überwiegenden Überzeugungliegt, muss das Beweismaß bei der Glaubhaftmachung noch tiefer liegen, wenn die gesetzgeberische Absicht, mit der Glaubhaftmachung die Durchsetzung des Anspruchs zu erleichtern, nicht ignoriert werden soll. Eine entscheidungstheoretische Analyse des Beweismaßes der Glaubhaftmachung zeigt, dass dieses in vielen Fällen tatsächlich unter der 50% Grenze subjektiver Wahrscheinlichkeit liegt, nämlich dann, wenn die Kosten eines Fehlers 2. Art höher sind als die Kosten eines Fehlers 1. Art. Dies ist beispielsweise bei vorsorglichen Sicherungs-, nicht aber bei vorsorglichen Befriedigungsverfügungen der Fall. Richtigerweise sollte man daher die Glaubhaftmachung als flexibles Beweismaß, das anders als das Regelbeweismaß von den Fehlerkosten im Einzelfall abhängt, verstehen. Diese Auffassung lässt sich insbesondere deshalb mit dem geltenden Recht vereinbaren, weil der Gesetzgeber es bewusst unterlassen hat, den Begriff der Glaubhaftmachung angesichts der historischen Kontroverse um seinen Inhalt zu definieren.

Die empirische Bestimmung des tatsächlich gelebten Regelbeweismaßes zeigt, dass das angeblich geltende hohe Beweismaß der vollen Überzeugung tatsächlich nicht angewendet wird. Fragt man Richter und Gerichtsschreiber direkt, wie hoch die subjektive Wahrscheinlichkeit der anspruchsbegründenden Tatsachenbehauptungen gemäß dem Regelbeweismaß der vollen Überzeugung sein müsse, so erhält man die Antwort, dass die Grenze bei etwa 90% liege. Fragt man sie nach den Fehlerkosten von korrekten und falsch negativen und falsch positiven Urteilen, so liegt die aus den Fehlerkosten abgeleitete Entscheidungsgrenze bei 50%. Benutzt man die ausgedrückte Überzeugung als Prädiktor für die Gutheißung der Klage, so heißen bereits bei einem Überzeugungsgrad von 63% die Hälfte der Gerichtsangehörigen die Klage gut, wobei sich der von ihnen verlangte Überzeugungsgrad nicht von dem der allgemeinen deutschen Bevölkerung unterscheidet und nahe bei der mit einer vergleichbaren Methode in Israel, das in Zivilsachen das englische Beweismaß der „balance of probabilities“ kennt, gemessenen Entscheidungsgrenze von 70% liegt. Je höher die individuelle Verlustaversion, desto geringer ist dabei die Wahrscheinlichkeit, dass eine Leistungsklage bei gegebenen Überzeugungsgrad gutheißen wird, was die Vermutung stützt, dass die Verlustaversion dazu beiträgt, dass ein Beweismaß der überwiegenden Überzeugung als zu tief empfunden wird.

Leave a Reply

Your email address will not be published.