Richterliche Entscheidungsfindung

Meine ältere Forschung widmete sich dem Einfluss so genannter “kognitiver Täuschungen” auf juristische Entscheidungen.

by Manu Dreuil

Mein Interesse an diesem Thema wurde durch ein Seminar zu “Behavioural Law and Economics” von Ronen Avraham und James Krier an der University of Michigan Law School geweckt. Dies führte zu einer Masterarbeit mit einem Experiment zur zeitlichen Stabilität des Besitztumseffekts (endowment effect), die zwar nie publiziert wurde, mir aber Grundlagen der Versuchskonzeption und statistischen Analyse vermittelte.

In meiner Doktorarbeit untersuchte ich den Einfluss kognitiver Täuschungen auf die Urteile von schweizerischen Richtern aus sieben Kantonen. Ich kann zeigen, dass kognitive Täuschungen einen messbaren Einfluss unter anderem auf Vergleichsvorschläge, Genugtuungssummen und Strafzumessung haben. Im Erscheinungsjahr 2005 wurde das Buch als erste deutschsprachige Arbeit zu Behavioural Law and Economics betrachtet. Ich verstehe meinen Ansatz eher als “Recht und Psychologie” in der Tradition des Rechtsrealismus, weil ich überzeugt bin, dass diese psychologischen Phänomene auch dann relevant sind, wenn man nicht glaubt, dass Effizienz das Ziel des Rechts ist.

In neuerer Zeit führte mein Interesse an der Entscheidungspsychologie zu einer Untersuchung der verfassungsmässigen Schranken des Nudging durch staatliche Akteure. Unter “Nudging” (“stupsen”) wird der Versuch der Verhaltenssteuerung ohne Zwang oder finanzielle Anreize durch Gestaltung des Wahlraums bezeichnet. Aus rechtlicher Sicht stellen sich die spannenden Fragen, ob durch Nudging in die persönliche Autonomie eingegriffen wird und ob Nudging nach dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz geboten sein kann. 

Beweisrecht

Ausschnitt aus einem ECHO (Explanatory Coherence by Harmany [sic] Optimization) Netzwerk eines stilisierten Rechtsfalls

Meine Doktorarbeit weckte mein Interesse an formalen Methoden der Beweiswürdigung, den diese scheinen – bis zu einem gewissen Grad – vor intuitiven Fehlurteilen zu schützen. Beweiswürdigung ist ausserordentlich schwierig – facti interpretatio plerumque etiam prudentissimos fallat (D., XXII, 6, 2) – gleichzeitig wird sie in der juristischen Ausbildung weitgehend vernachlässigt. Die “freie” Beweiswürdigung scheint jede wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema auszuschliessen.

“Frei” bedeutet jedoch nicht irrational – die Beweiswürdigung muss nachvollziehbar begründet sein, sie darf nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstossen. Subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie ist ein rationales Modell induktiven Schliessens. Mit der Hilfe von Bayes’ Netzen können auch komplexe Sachverhalte modelliert werden. Dadurch wird offenbar, auf wie zahlreichen unausgesprochenen Annahmen jede Beweiswürdigung beruht, und diese können diskutiert werden.

Experimentell bestimmte Entscheidungsgrenze in Zivilsachen

Mit der rationalen, atomistischen Beweiswürdigung kontrastiert die intuitive, holistische Gesamtschau. Diese kann durch psychologische Modelle der Überzeugungsbildung, namentlich Theorien des kohärenzbasierten Denkens (coherence based reasoning), abgebildet werden. Diese Modelle legen unter anderem nahe, dass der Urteilende auch bei ambivalenten Sachverhalten nach dem Entscheidungsprozess subjektive Gewissheit erlangt, richtig entschieden zu haben. Ich kann experimentell zeigen, dass die atomistische Beweiswürdigung mit Hilfe eines Bayes’ Netz die bestehenden Unsicherheiten offenlegt und zu einer Konvergenz der Überzeugungen von verurteilenden und freisprechenden Entscheidern führt. Dieses wichtige Resultat zeigt, dass übertriebene Gewissheit durch formale Modelle der Beweiswürdigung reduziert werden kann.

Ein entscheidungstheoretisches Verständnis von Beweismass führt zur Erkenntnis, dass das Beweismass von den relativen Kosten eines Fehlurteils bestimmt wird. Dass diese Kosten beim irrtümlichen Schutz einer nicht bestehenden Forderung grösser sind als beim irrtümlich unterlassenen Schutz einer bestehenden Forderung, ist zwar psychologisch einleuchtend, lässt sich aber normativ kaum rechtfertigen. Ich kann experimentell zeigen, dass Richterinnen und Richter die beiden Fehler nicht unterschiedlich gewichten, und dass das tatsächlich angewandte Beweismass in Zivilsachen sehr viel tiefer ist als die geforderte “volle Überzeugung”.

Neben diesen grundlagenorientierten Arbeiten zur Beweiswürdigung befasse ich mich auch mit angewandten Problemen des Beweisrechts, so mit der Substanziierungsobliegenheit, vorsorglichen Beweisführung, schriftlichen Zeugenaussagen oder der Methodik der richterlichen Schätzung ziffernmässig nicht nachweisbarer Schäden nach Art. 42 Abs. 2 OR.

Immaterialgüterrecht

relative Dringlichkeit im Massnahmeverfahren

Neben meiner praktischen Tätigkeit im Immaterialgüterrecht, v.a. in der gerichtlichen Durchsetzung von Schutzrechten, habe ich mich immer auch wissenschaftlich mit Immaterialgüterrecht beschäftigt, so mit der Verwirkung patentrechtlicher Ansprüche, dem prozessualen Anspruch auf genaue Beschreibung, dem zivilrechtlichen Verschulden bei der Verletzung von Schutzrechten oder den aus einer Patentverletzung resultierenden finanziellen Ansprüchen.