Kognitive Täuschungen vor Gericht: eine empirische Studie

Book
Mark Schweizer
Diss. Zürich 2005
Publication year: 2005

Klappentext

In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts begannen Juristen in den USA, sich für den Einfluss sogenannter Urteilsheuristiken – einfache Faustregeln, die komplexe Urteile vereinfachen –  auf juristische Entscheidungen zu interessieren. Die neue Forschungsrichtung wird oft  als “Behavioral Law and Economics“, also etwa “Verhaltenswissenschaftliche Ökonomische Analyse des Rechts”, bezeichnet, weil sie sich anfangs in erster Linie als Kritik am orthodoxen Modell des “homo oeconomicus” verstand. Heute wird sie besser als eine neue Form der Rechtspsychologie angesehen, die sich nicht mehr auf pathologische Fälle konzentriert.

Die mit dem Prof. Walther Hug Preis ausgezeichnete Dissertation stellt in ihrem ersten Teil die Geschichte der neuen Strömung dar und  erörtert in einem zweiten Teil anhand zweier Umfragen, an denen 415 Richter aus sieben deutschschweizerischen Kantonen teilgenommen haben, den Einfluss zehn sogennanter “kognitiver Täuschungen”  – Ankereffekt (anchoring), Bestätigungsfehler (confirmation bias), Darstellungseffekt (framing), Hofeffekt (halo effect), Kontrast- und Kompromisseffekt, Rückschaufehler (hindsight bias), Selbstüberschätzung (overconfidence), Unterlassungseffekt (omission bias) u.a. –  auf Entscheidungen von Richtern und Parteien in Zivil- und Strafverfahren. Die psychologische Forschung und die Kontroversen zu den einzelnen kognitiven Täuschungen werden ausführlich dargestellt. Praktische Tipps für den Umgang mit kognitiven Täuschungen fehlen ebenfalls nicht.

Warum diese Dissertation nicht in einem Verlag erschienen ist.

Die Gründe, warum diese Dissertation nicht in einem Verlag erschienen ist, ergeben sich aus diesem Email an den Herausgeber der Reihe, in der die Arbeit akzeptiert wurde:

Der [Name]-Verlag teilt mir mit, dass er meinen Vorbehalt, die Dissertation kostenlos auf dem Internet veröffentlichen zu können, nicht akzeptiert.

Für mich ist dieser Vorbehalt conditio sine qua non für eine Vertragsunterzeichnung. Das System funktioniert derzeit so, dass die Verlage Geld verlangen vom Autor für die Publikation seines Werkes und dann nochmals Geld von jedem, der das Werk lesen will. Verliererin ist die wissenschaftliche Gemeinschaft, die die Rechnung bezahlt.

Mit dem Internet sind die Kosten der Publikation gegen Null gesunken. Zahlreiche Initiativen stemmen sich daher gegen das Informations-Monopol der Verlage und schaffen offene Internet-Archive, die für jedermann kostenlos zugänglich sind (siehe z.B. http://www.openarchives.org/, oder die Budapest Open Access Initiative).

Um die Budapest Open Access Iniative zu zitieren:

“Die Budapest Open Access Initiative ist aus einem Treffen in Budapest hervorgegangen, das von dem Open Society Institute (OSI) am 1. und 2. Dezember 2001 veranstaltet wurde. Ziel des Treffens war es, die internationalen Bemühungen um den freien Online-Zugang zur wissenschaftlichen Fachzeitschriftenliteratur für alle akademischen Felder voranzubringen.”

Der freie Zugang hat auch für die Autoren messbare Vorteile, wie Steve Lawrence in einem Artikel, der in Nature 2001, 521 ff, erschienen ist, festhält:

“Articles freely available online are more highly cited. For greater impact and faster scientific progress, authors and publishers should aim to make research easy to access. […] Free online availability facilitates access in multiple ways, including online archives, direct connections between scientists or research groups, hassle-free links from email, discussion groups, and other services, indexing by web search engines, and the creation of third-party search services. Free online availability of scientific literature offers substantial benefits to science and society. To maximize impact, minimize redundancy, and speed scientific progress, author and publishers should aim to make research easy to access.”

Die Verlage versuchen natürlich, die freie Zugänglichkeit zu verhindern, um ihr lukratives Monopol nicht zu gefährden. Wenn [Name] nicht bereit ist, bei einem Werk, das druckfertig formattiert ist und für dessen Publikation (300 Exemplare!) der Verlag Fr. 7500 erhält, die freie Zugänglichkeit zu erlauben, dann bin ich nicht bereit, meine Dissertation bei [Name] erscheinen zu lassen.

Gedruckte Exemplare

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Gedruckte Exemplare der Dissertation können für EUR 20 zzgl. Versandkosten (EUR 6.50 in die Schweiz) bei lulu.com bezogen werden.

Streitgespräch

Ein Streitgespräch zur Dissertation zwischen Bruno Steiner, ehem. Bezirksrichter, Zürich, und Cornelia Apolloni Meier, Oberrichterin, Bern, erschien in plädoyer 1/2007.

  • Einleitung

    Die Forschung zu den so genannten heuristics and biases legt nahe, dass – unbeeinflusst von Ideologie und Eigennutz – die Natur menschlichen Denkens in Entschei­dungssituatio­nen unter Unsicherheit dazu führt, dass Richter in bestimmten Situationen systematische und vorhersehbare Fehler machen. Amos Tversky und Daniel Kahneman zeigten in den frühen siebziger Jahren, dass Menschen bei Entscheidungen unter Unsicherheit so genannte Urteilsheuristiken – einfache Faustregeln, die komplexe Urteile vereinfachen – verwenden. Die Verwendung solcher Faustregeln kann häufig einen schwierigen Ent­scheid vereinfa­chen. In anderen Situationen führen sie jedoch zu systematischen Verzerrun­gen und Abwei­chungen von einer rationalen Entscheidung. Weil der Einfluss der heuristics und die daraus resultierenden biases von den Urteilenden meist nicht erkannt werden, werden sie in Anlehnung an die bekannten optischen Täuschungen auch als „kog­nitive Täuschungen“ (cognitive illusions) bezeichnet.

    Eine PDF-Datei der Einleitung können Sie unter dem Link herunterladen; die Seitenzahlen entsprechen der Druckversion.

  • American Legal Realism

    Die Rechtsrealisten argumentieren, dass das Recht in zweifacher Hinsicht unbestimmt (inde­terminate) ist. Erstens ist das Recht normativ unbestimmt in dem Sinne, dass die verfügbaren rechtlichen Argumente und Konzepte ein bestimmtes Urteil nicht rechtferti­gen können; zumindest nicht in den schwierigen Fällen (hard cases), wie sie in der Regel vor Berufungsgerichten verhandelt werden. Zweitens ist das Recht deskriptiv unbestimmt in dem Sinne, dass die rechtlichen Regeln nicht genügen, um zu erklären, warum ein Ge­richt einen Fall so und nicht anders entschieden hat. Llewellyn wies darauf hin, dass Präjudizien eng oder weit interpretiert werden können und es kein logisches Argument gibt, der einen oder anderen Interpretation den Vorzug zu geben. Bei einer engen Interpre­tation wird die bindende Wirkung des Präjudizes auf die spezifischen Fakten be­schränkt, die dem Fall zu Grunde lagen, während bei der weiten Interpretation versucht wird, ein allgemein gültiges Prinzip abzuleiten, das auf alle vergleichbaren Fälle anwend­bar ist. Präjudizien als Rechtsquellen können daher ein Urteil allein nicht erklären, da verschiedene Regeln aus ihnen abgeleitet werden können.

    Eine PDF-Datei des Teils zum American Legal Realism können Sie unter dem Link herunterladen; die Seitenzahlen entsprechen der Druckversion.

  • Ökonomische Analyse des Rechts

    Die Ökonomik – d.h. die wirtschaftswissenschaftliche Methode, im Gegensatz zur Ökonomie, ihrem traditionellem Gegenstand – beschäftigt sich mit zwei unterschiedlichen Fragestellungen. Die positive Ökonomik erklärt und prognostiziert wirtschaftliche Vor­gänge. Die normative Ökonomik hingegen bewertet wirtschaftliche Zustände oder Verän­derungen auf der Grundlage eines vorher definierten Kriteriums. Die Ökonomische Analyse des Rechts als Teilgebiet der Ökonomik beschäftigt sich daher sowohl mit positi­ven wie normativen Fragestellungen, die nicht vermischt werden sollten.

    Eine PDF-Datei des Teils zur Ökonomischen Analyse des Rechts können Sie unter dem Link herunterladen; die Seitenzahlen entsprechen der Druckversion.

  • Rezeption der psychologischen Forschung durch die Rechtswissenschaft: Behavioral Law and Economics oder Empirical Legal Realism

    Michael J. Saks und Robert F. Kidd waren 1980 die ersten Juristen, die sich explizit auf die sozialpsychologische Forschung zu den heuristics and biases, Rückschaufehler und Overconfidence beriefen. Sicherlich beeinflusst vom sehr pessimistischen Bild menschli­chen Denkens, das in den siebziger Jahren gezeichnet worden war, empfahlen sie, bei der Feststellung von Tatsachen durch Gerichte mathematische Hilfsmittel (decision aids) bei zu ziehen (der Artikel war eine durch die psychologische Forschung untermauerte Antwort auf Lawrence Tribes berühmten Aufsatz „Trial by Mathematics: Precision and Ritual in the Legal Process“, in dem Tribe 1971 die Anwendung des Bayes-Theorem in Geschworenenprozessen abgelehnt hatte). Catherine Fitzmaurices und Ken Peases Buch „The Psychology of Judicial Sentencing” aus dem Jahr 1986 enthielt ein Kapitel über “Cognitive Errors and Judges”, in dem sich die Autoren Gedanken über den Einfluss verschiedener kognitiver Täuschungen auf richterliche Entscheidungen machten. Den Arbeiten von Saks/Kidd und Fitzmaurice/Pease gemeinsam ist, dass sie sich nicht auf die Ökonomische Analyse des Rechts beziehen und keine eigene empirische Forschung vorstellen.

    Eine PDF-Datei des Teils zur Rezeption der psychologischen Forschung durch die Rechtswissenschaft können Sie unter dem Link herunterladen; die Seitenzahlen entsprechen der Druckversion.

  • Kritik

    Der heuristics and biases Ansatz wird kritisiert, weil er sich einseitig auf die Fehler im Sinne einer Abweichung von einer (allzu) eng verstandenen Rationalität konzentriere, statt die adaptiven Vorteile der Urteilsheuristiken zu erforschen, weil er den Kontext von Entscheidungen vernachlässige und daher Laborresultate leichtfertig generalisiere und weil er in 30 Jahren Forschung nicht geschafft habe, eine Theorie zu formulieren, die sowohl fehlerhafte wie korrekte Entscheidungen voraussagen kann.

    Eine PDF-Datei des Teils zur Kritik am “heuristics and bias” Ansatz können Sie unter dem Link herunterladen; die Seitenzahlen entsprechen der Druckversion.

  • Prospect Theory – ein deskriptives Modell menschlichen Risikoverhaltens

    Als verbreiteste formalisierte Alternative zur Erwartungsnutzentheorie wird hier die Prospect Theory ausführlicher dargestellt. Da sie strukturell vergleichbar ist mit der Er­wartungsnutzentheorie bietet sie für den Leser, der mit der Erwartungsnutzentheorie nicht vertraut ist, auch eine Einführung in die methodischen Grundlagen dieser Theorie. Anders als die Erwartungsnutzentheorie ist die Prospect Theory jedoch eine deskriptive Theorie menschlichen Risikoverhaltens; sie sagt nicht, wie man sich verhalten soll, sondern be­schreibt, wie sich Menschen tatsächlich verhalten. Obwohl die Prospect Theory mittels hypothetischer Lotterien entwickelt wurde, sind ihre Voraussagen keineswegs nur auf das Verhalten unter Laborbedingungen beschränkt. Sie wurden bestätigt, wenn es für die Versuchspersonen um Einsätze in der Höhe mehrerer Monatslöhne ging; und auch Experten sind nicht gegen den Einfluss des Darstellungseffekts ge­feit.

    Eine PDF-Datei des Teils zur Prospect Theory können Sie unter dem Link herunterladen; die Seitenzahlen entsprechen der Druckversion.